Es gibt Gezeiten im Leben des Menschen,
und weiß er die Flut zu nutzen,
dann hebt sie ihn empor zum Glück.

William Shakespeare

    Löwe

    »Morgen werde ich König«, verkündete der junge Löwe Salim stolz den beiden Eseln, die ihm auf seinem Weg zur Quelle des Sambesi begegneten. »Kein Leithammel, kein Rudelführer, sondern Löwenkönig!« 

    An der Quelle lebte Gamba, der mächtigste aller Löwen. Sämtliche Leurudel, die an den Ufern des Sambesi lebten, schickten ihre neuen Anführer zu ihm. Und das hatte einen besonderen Grund.


    »Ihr müsst wissen, ein König erfüllt eine wichtige Aufgabe«, erklärte Salim.

    »Wir haben auch eine Aufgabe«, sagte der eine. »I-A«, unterstrich der andere.

    »Das kann ja nichts Tolles sein«, bügelte Salim ab.

    »Doch! Wir tragen«, riefen die beiden begeistert.

    »Wie bedauernswert. Warum macht ihr das?«

    »Haben wir immer so gemacht.«

    »Das ist kein Grund. Für mich sind solcherlei Tätigkeiten unwürdig.«

    »Armer König. Was macht er dann?«

    »Fressen, auf der Löwenhaut liegen und schöne Löwinnen beglücken«, strahlte Salim.

    Die beiden schüttelten den Kopf. »Ein nutzloses Leben. Er trägt ja gar nichts.«

    Mit niederen Huftieren sollte man solche Dinge besser nicht besprechen, dachte sich Salim. 

    »Ihr dürft mich zur Quelle tragen.«

    »Nö, das ist nur was für einen. Was macht der andere? Wir wollen beide tragen!«

    »Schade für euch. Heute ist Tierruhetag«, schwindelte Salim. »Es werden keine Trageaufträge mehr vergeben. Aber bitte, wenn ihr meint.«

    »Schnell! Steige er auf«, rief rasch der eine. 

    »Bockmist«, maulte eifersüchtig der andere und trottete mürrisch nebenher.

    »Einen künftigen König zu tragen, gibt dem Leben eines Huftieres besondere Bedeutung«, sprach Salim.


    Nach einigen Stunden erreichten sie die Quelle.

    »Ihr habt übrigens Glück. Auf meinem Weg zur Königsernennung fresse ich nicht. Alter Löwenbrauch.« 

    »Tja, wer nichts frisst, kann nichts tragen«, bemerkten die beiden trocken, drehten sich um und hofften, dass der angebliche Tierruhetag bald vorüber ging.

    Es dauerte nicht lange, bis Salim auf Gamba traf. Strahlend und mächtig stand er vor ihm.

    »Ich bin Gamba! Ich kann dich töten, ohne dass meine Augen zucken.« 

    »Und ich bin Salim. Was immer du tust, meine Augen werden auch nicht zucken.«

    Gamba musterte ihn. »Du hast Mut. Aus dir könnte ein König werden.« 

    »Darum bin ich hier. Was brauche ich noch?«

    »Wenn die Sonne untergegangen ist, treffen wir uns wieder. Dann erhältst du deine Antwort.« 

    Der sternenklare Nachthimmel bot einen grandiosen Anblick. In Salims Seele stieg das erste Mal in seinem Leben die Ahnung auf, dass es etwas Größeres als ihn selber gab.

    »Siehst du die neun funkelnden Lichter dort?« Gambas kräftige Pranke zeigte in den Osthimmel. 

    »Die Lichter sind Sterne. Sie bilden das Zeichen des Löwen. Unser Sternzeichen und Herrscher. Auch andere Tiere sind von ihm durchdrungen, wenn sie unter seinen Sternen geboren werden.« 

    »Sicherlich Löwen zweiten Ranges«, unterbrach Salim.

    »Schweige und lauere«, ermahnte ihn Gamba. »Wenn du still bist, kannst du ihn hören.«

    Salim schwieg, hörte und vernahm: 


    Ein Löwe kann sich nur selber erziehen und darf sich von keinem etwas sagen lassen. 

    Er hört allein auf sein Herz. 

    Der wahre Löwe setzt seine Kraft nicht nur für sich selber ein. Er beschützt und unterstützt die ihm anvertrauten Lebewesen.

    Er macht andere stark und selbstbewusst und wird dadurch selbst noch stärker.


    Salim bekam in dieser Nacht alle Löwengebote übermittelt, um weise führen zu können. 

    Er war ergriffen und traurig. 

    »Ich habe mein Leben bisher nicht so gelebt.« 

    »Du wusstest diese Dinge nicht«, tröstete Gamba.

    Salim berichtete von seiner Begegnung mit den Eseln.

    Gamba sprach: »Du verstehst sie nicht, weil du ihr Sternzeichen nicht kennst. Wie unser Löwenherrscher am Himmel, so steht ihr Herrscher dort und erzählt den Huftieren wunderbare Dinge.«

    Er erzählt wie toll das Tragen ist, dachte Salim, zog es aber vor zu schweigen. 


    Bevor sie sich zur Ruhe legten, schaute er noch einmal in den Nachthimmel. Salim hatte tief in seinem Herzen verstanden. Als er das Zeichen des Löwen betrachtete, kam es ihm vor als würden ihm die Sterne zublinzeln.

    Ich werde dich nicht enttäuschen, versprach er seinem Sternzeichen.


    Am nächsten Morgen verabschiedete sich Salim von Gamba. 

    »Den alten Salim gibt es nicht mehr. Der Neue wird auf sein Herz hören. Ich danke dir für alles.«

    Gambas Augen zuckten, was sie nur sehr selten taten.

    Auf dem Rückweg traf Salim auf die beiden Esel. Griesgrämig schimpften sie: 

    »Wir sind schlecht auf ihn zu sprechen. Gestern war gar kein Tierruhetag. Er hat uns reingelegt.«

    Salim versuchte ihren Groll mit einem Scherz zu besänftigen. »Obwohl ihr mich gestern abgesetzt habt, tragt ihr mich heute noch mit euch rum.«

    »Wir verstehen ihn nicht«, schmollten die beiden weiter. 

    »Gut, Entschuldigung. Wie kann ich das wieder gutmachen?«

    »Wir sind sehr nachtragend«, sagte der eine.

    »Steige er also auf«, bestimmte der andere. 

    »Aber unten am Fluss wird diesmal gewechselt«, forderte der eine vom anderen.

    »I-A«, schallte es durch die Savanne. 

    Salim beschützte die beiden bis an ihr Lebensende.


     

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